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Ich schreibe diese Worte mit zitternder Hand, nicht aus Kälte, sondern weil meine Finger noch immer glauben, sie müssten sich an Stein klammern, der längst zerfallen ist. Wenn jemand dieses Zeugnis liest, dann nur, weil ich entkommen bin. Nicht gerettet. Entkommen.
Ich war Adeptin der gütigen Nemei, dritte Stufe des inneren Kreises, zuständig für die Morgenriten am Quelltempel. Meine Welt bestand aus weißem Stein, aus Gesängen, aus dem Duft von Weihrauch und frischem Brot. Hierosolyma war kein Ort, sie war ein Versprechen. Ein Versprechen, dass Güte Bestand haben könne, selbst im Schatten der Welt.
Am Tag der Zerstörung war der Himmel klar. Zu klar. Die Vögel schwiegen länger als gewöhnlich, doch wir deuteten es als Ehrfurcht. Die ersten Schreie kamen nicht von den Mauern, sondern aus den Gassen. Vertraute Stimmen, die meinen Namen riefen, aber nicht um Hilfe baten, sondern um Einlass. Bauern aus den Dörfern, die wir kannten, die wir gesegnet hatten. Sie trugen keine Banner. Sie trugen nichts als Entschlossenheit.
Dann kamen die Tiere.
Ich sah Hunde, die niemals gebellt hatten, Zähne zeigen. Pferde, die ihre Reiter abwarfen und sich gegen die Stadtmauern warfen. Vögel verdunkelten den Himmel in dichten Schwärmen, und mit ihnen fiel etwas anderes. Blätter. Zweige. Samen. Es war, als hätte der Wald beschlossen, näher zu rücken.
Die Pflanzen bewegten sich nicht hastig. Sie hatten keine Eile. Ranken krochen über Steine, fanden Risse, fanden Halt. Türen klemmten. Fenster zerbarsten nicht, sie wurden umarmt. Waffen verhedderten sich. Ich sah einen Tempelwächter, wie sein Schwert in einem Geflecht aus Wurzeln stecken blieb, als hätte es dort schon immer hingehört.
Ich rannte.
Nicht aus Feigheit. Aus Instinkt. Nemei lehrte uns, Leben zu bewahren, wo es möglich ist. Auch das eigene. Ich rannte durch Gänge, die ich seit meiner Kindheit kannte, und erkannte sie kaum wieder. Der Boden war feucht. Der Stein atmete. Stimmen flüsterten meinen Namen, nicht laut, nicht drohend, sondern bittend. Ich hörte meine eigene Stimme antworten, ohne zu wissen, was ich sagte.
Am Westtor stürzte ich. Etwas hatte meinen Knöchel erfasst. Keine Hand. Etwas Lebendiges, aber nicht warm. Ich schlug blind um mich, betete, schrie, flehte. Dann ließ es los. Nicht abrupt. Wie eine Entscheidung, die überdacht wurde.
Ich rannte weiter, bis die Stadt hinter mir verschwand und der Wald mich verschluckte.
Ich dachte, draußen wäre ich sicher. Welch törichter Gedanke.
Die Tage danach sind verschwommen. Zeit hatte im Wald eine andere Bedeutung. Ich verlor die Sonne. Ich verlor den Himmel. Ich verlor das Gefühl dafür, ob ich verfolgt wurde oder geführt. Wege führten im Kreis. Bäche endeten dort, wo sie begonnen hatten. Manchmal fand ich Beeren und Früchte, die so einladend wirkten, dass mir der Mund wässerte. Ich aß keine. Nicht aus Weisheit. Aus Angst.
Mehrmals entkam ich nur knapp dem Tod. Einmal brach der Boden unter mir ein und gab den Blick frei auf ein Gewirr aus Wurzeln, so dicht, dass sie den Sturz abfingen. Ein anderes Mal hörte ich Schritte hinter mir, nur um festzustellen, dass der Wald selbst mein Echo trug. Nachts träumte ich von Hierosolyma, wie es noch stand, und erwachte mit dem Geschmack von Asche im Mund.
Erst viel später, als ich kaum noch Kraft hatte, lichtete sich der Wald. Die Bäume traten zurück, nicht gleichzeitig, sondern einer nach dem anderen. Ich stolperte ins Freie, fiel auf nackten Boden und weinte, bis mir die Tränen ausgingen.
In diesen Tagen hörte ich auch von Nemeis Zorn.
Man sagte, sie sei erschienen, nicht in Licht, sondern in Stille. Ihr Zorn war kein Feuer. Er war Enttäuschung, schwerer zu tragen als jede Flamme. Ein Ritter, ein Überlebender wie ich, wurde von ihr berührt. Warum gerade er, weiß ich nicht. Vielleicht war er zur falschen Zeit am falschen Ort. Vielleicht trug er Schuld, die nur sie sehen konnte.
Sie verfluchte ihn nicht mit Schmerz. Sie nahm ihm die Erinnerung. Seine Siege, seine Fehler. Und doch war sie gütig. Sie ließ ihn leben. Sie gab ihm fünf Tage. Fünf Tage ohne Last, ohne Vergangenheit. Ich weiß nicht, ob das Gnade war oder Strafe. Vielleicht beides.
Ich schreibe dies, damit man weiß, dass Hierosolyma nicht einfach gefallen ist. Sie wurde verlassen. Nicht von uns, sondern von der Welt, wie wir sie kannten.
Wenn du, der du dies liest, jemals den Rand dieses Waldes erreichst und das Gefühl hast, er sehe dich an, dann wende dich um. Nicht aus Angst. Aus Respekt.
Ich habe gelernt, dass es Schicksale gibt, die man nicht aufhalten kann. Man kann ihnen nur entkommen.
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